Knabenrad der Firma Gitane von 1962

Werbeplakat der Firma Gitane, Ende 1950er/1960er Jahre
Werbeplakat der Firma Gitane, Ende 1950er/1960er Jahre

Ich suchte kein Kinderfahrrad, das Rad fand mich irgendwie...

 

Die französische Nachbarin eines Sammler-kollegen aus München fragte ihn eines Ta- ges, ob er ihr altes Kinderrad reparieren könne. Da er keine Zeit fand entschloss sich Edwige - so heißt die Nachbarin - das Räd- chen in gute Hände abzugeben, damit es weiterleben möge.

Mein Sammlerkollege bot es darauf hin in einem Fachforum an. Für mich war es zu- nächst allerdings deutlich zu jung, als dass es in meine kleine Sammlung passen würde. So dachten wohl auch andere. Aber der Kollege blieb hartnäckig und ich gestand mir ein, dass ein gutes halbes Jahrhundert auch nicht mehr soo jung ist - auch wenn ich mich eigentlich nicht alt fühle... Kurzum, der klei- ne rote Renner landete in meiner Werkstatt.

Werbung der Firma Gitane von 1968
Werbung der Firma Gitane von 1968

Die erste Bestandsaufnahme offenbarte un- brauchbare Reifen, ein fehlendes bzw. fal- sches Pedal, defekte Bowdenzüge und et- liche Spuren des täglichen Überlebens-kampfes auf dem Schulhof. Nichts Drama-tisches eigentlich, das sollte schnell erledigt sein. Dass es dennoch ein halbes Jahr be- anspruchte, allein die fehlenden Teile, wie weißen Reifen und weiße Pedale, aufzutrei- ben, bestätigte mich wieder in meiner An- sicht, möglichst komplette Restaurierungs-exemplare zu erwerben. Das trifft ganz be- sonders auf alte Kinderräder zu.

 

Zuerst dachte ich an eine schnelle Kur für die kleine Zigeunerin (Gitane = Zigeunerfrau - auch wenn das heute politisch nicht mehr korrekt sein mag); ein Auswechseln bzw. Ergänzen der defekten und fehlenden Teile in Verbindung mit einer gründlichen Reinigung sollte ausreichen. Irgendwie schaffe ich das aber nie, wahrscheinlich bin ich da zu sehr Perfektionist. Ein Teil nach dem anderen wurde demontiert, bis der rote Renner völlig zerlegt auf der Werkbank lag und mir offenbarte, dass ich nach den Monteuren in Nantes der Erste war, der die Lager von innen sah. Belohnt wurde ich allerdings durch meine wachsende Begeisterung ob der außergewöhnlichen Qualität des Rades, die es vorher gründlich unter einer dicken Kruste aus verharztem Fett und Dreck verbarg. Diese Qualität kommt nicht von ungefähr:

Werbung der Firma Gitane um 1963
Werbung der Firma Gitane um 1963

Die Firma Gitane aus der Nähe von Nantes in Nordwestfrankreich war eine der erfolg-reichsten Rennradbauer Frankreichs in der Nachkriegszeit. Namen wie Jean Stablinski, Rudi Altig, Jacques Anquetil, Bernard Hinault, Laurent Fignon, Greg Lemond und andere sind sogar Nicht-Radrennbegeister- ten wie mir ein Begriff. Zahllose Siege, u.a. auch neun Mal bei der Tour de France, sprechen eine deutliche Sprache. Und ich hatte also ein Kind dieser berühmten Mutter vor mir auf der Werkbank...

 

Die Rahmenhöhe des Rädchens beträgt ge- rade einmal 36 cm. Ein normaler Fahrrad-reifen in 28" überragt somit noch den Len- ker des kleinen Boliden. Damit ist es der kleinste Rahmen den Gitane damals herstellte und für 'Taferlklassler' geeignet, wie die Österreicher sagen, also für Knaben mit ungefähr 7 Jahren.

1962 Gitane, Bremssicherung in der Gabel
1962 Gitane, Bremssicherung in der Gabel

Diese winzigen Dimensionen hinderten Gitane nicht daran, das Rädchen in heraus-ragender Qualität zu bauen: Keine billig zu produzierenden Pressblechteile, sondern ein sauber verlöteter Rahmen mit 'erwachsenen' Ausfallenden; aus dem Vollen gedrehte Alu- miniumnaben mit eingepressten, ebenfalls aus dem Vollen gedrehten Lagerschalen aus Stahl; hochwertigen Aluminiumbremsen von CLB nebst Sicherheitsgriffen; ein rahmen-fester Gepäckträger; eine aufwändige Zweischicht-Metalliclackierung und nicht zuletzt ein Sicherheitsfeature, das ich das erste Mal sah: Eine doppelte Sich- erung der vorderen Bremse. Sollte sich die übliche Schraube an der Gabel-hinterseite lösen und das Kind bemerkt es nicht, könnte die Felgenbremse her- ausrutschen und in die Speichen geraten, was unweigerlich zu einem Sturz führen würde. Das wird hier durch eine zusätzliche Klemmung im Gabelschaft zuverlässig verhindert - ich bin fast verzweifelt beim Zerlegen, bis ich das System durchblickt habe. Kurzum, ein Fahrrad, mit dem ich auch heute noch bedenkenlos ein Kind fahren lassen würde - ganz im Gegensatz zu so manch grottigen Teilen, die heute in Baumärkten und 'Fachgeschäften' angeboten werden. Wahrscheinlich war die kleine Zigeunerin auch nicht gerade billig...

Werbung der Firma Gitane aus den 1960er Jahren
Werbung der Firma Gitane aus den 1960er Jahren

Ersetzt habe ich die defekten, weißen Ori-ginalreifen von Dunlop gegen einen Satz weißer NOS (new old stock) Michelin in der französischen Größe 450 A (entspr. 18"); die ursprünglich verbauten Lyotard-Pedale, von denen nur noch das linke vorhanden war, wichen einem Satz Union-Pedale (we- nigstens mit französischer Beschriftung); die Bremszüge nebst Hüllen wurden erneuert. Sämtliche Lager wurden gereinigt, ge- schmiert und eingestellt, der Lack gereinigt und mit den Kampfspuren als Marken der Geschichte konserviert. Es fehlen noch eine Klemmschraube für die linke vordere Schutzblechstrebe sowie eine kleine Luft- pumpe, die in dieser Dimension noch etwas Zeit zum Finden benötigen wird. Ansonsten ist der rote Renner wieder einsatzbereit, aber zur Zeit mangels Kind in der passenden Größe zur Schreibtischdekoration degradiert.

 

Und jetzt fragen Sie, wie ich auf 1962 als Baujahr komme...

Die erste Datierung geschah anhand der Anbauteile wie Sattel, Bremsen, Pe- dale etc. und ließ ein Baujahr in den 1960ern vermuten. Das ging auch mit Edwiges Erinnerung konform. Die Demontage der völlig abgewetzten Original-Bereifung offenbarte dann eine Markierung mit Baujahr, ähnlich denen auf den heutigen Autoreifen. Damit, und durch Vergleiche mit Katalogmaterial (soweit greifbar) und ähnlichen Produkten aus dieser Zeit dürfte als Baujahr 1962 gesichert sein.

 

Nachtrag am 1. März 2014:

Dank meines Freundes und Sammlerkollegen aus München-Oberschleißheim hat sich nun schneller als erwartet eine passende Luftpumpe eingefunden (s. letzte Fotos). Auch das Schutzblech besitzt nun seine Befestigung. Ein Dank an dieser Stelle an Jürgen.