Als Archäologe ist man sozusagen an das Alter von Gegenständen gewöhnt und empfindet eine stark von der Zeit und der Benutzung beanspruchte Oberfläche nicht etwa als störend, sondern als einen wichtigen Teil des Objekts, wenn nicht gar den wichtigsten. Der Archäologe nennt das 'Gebrauchsspuren' und verknüpft damit den an sich toten Gegenstand mit seinen ehemaligen Benutzern und ihren Lebensumständen. Nimmt man nun dem Objekt diese Oberfläche, verliert es einen entscheidenden Teil seiner Geschichte und vor allem den Charme, den ein alter Gegenstand nun einmal auszuströmen vermag.
Kein professioneller Restaurator der seinen Beruf verstanden hat käme ernsthaft auf die Idee, ein altes Bild oder bemaltes Möbel, sei seine Oberfläche auch noch so ange- griffen, bis auf den Grund abzuschleifen und das Motiv mit frischer Farbe nachzumalen. Genau das machen aber immer noch sehr viele 'Hobby-Oldtimer-Restauratoren' mit ihren Fahrzeugen. Sie wünschen sich zwar ein altes Fahrzeug, möchten es aber wie ladenneu - oder besser 'schöner' - auf Tref- fen vorführen oder im Wohnzimmer stehen haben. Dass sie damit nur eine mal gelungenere, mal schlechtere Kopie erschaffen, verstehen die Meisten nicht, oder erst wenn es zu spät ist.
Zugegeben gibt es einige Fälle, bei denen man nicht um eine Totalerneuerung herumkommt, allerdings sind das viel weniger als man glauben mag. Dagegen gibt es
haufenweise alte Fahr- räder, die sandgestrahlt und neu lackiert, am besten noch pulverbeschichtet, mit fingerdicker Linierung versehen (für eine Profiarbeit ist man dann doch zu geizig) und
billigen, schlecht ge- machten Wasserabziehbildern verziert wurden, deren originale Oberfläche sich aber vorher in einem absolut erhaltenswerten Zustand befand. Beispiele könnte ich hier
zahlreich aufführen, allein ich würde mich jedes mal bei diesem Anblick ärgern. Und bei solchen Arbeiten noch von Restaurierung statt von Renovierung zu sprechen grenzt sowieso an völlige
Ignoranz. Sie bemerken, das Thema bewegt – und dabei denke ich noch nicht einmal an die vielen Phantasieumbauten, denen oft zeitgeschichtlich wertvolle Fahrräder zum Opfer
fallen.
Berufsbedingt fällt es mir leicht, mich der blitzenden Verlockung eines Neuzustandes zu entziehen. Ich möchte ein altes Fahrrad, kein neues. Ich möchte die Zeit sehen kön- nen, nicht nur erahnen. Und wenn Sie jetzt fragen, ob das denn mit einem alltags-tauglichen Zustand vereinbar ist, dann kann ich nur sagen: oft nicht. Für den Alltag nutze ich ein modernes Rad und erschaffe dadurch nach und nach den Oldtimer mit Geschichte und Charme von übermorgen.
Viele meiner Fahrräder sind nicht fahrbar, denn dafür müsste ich die alten, oft ver- löteten Speichen opfern; die über hundert Jahre alten Holzfelgen zerstören; ihnen die versteinerten Original-Bremsbeläge entreis- sen und einen fahrbaren Sattel aufzwingen - von der vorschriftsmäßigen Reflektoren- orgie nach StVZO ganz zu schweigen. Einige Räder sind fahrbar und werden auch gefahren, trotzdem möchte ich sie nicht dem rauen Alltagsbetrieb opfern oder sie mit Reflexstreifen verunzieren.
Jedem meiner Oldtimerräder sieht man sein Alter an; keines muss die Spuren der Zeit verstecken, sondern darf sie würdevoll zur Schau tragen, denn diese Zeichen der Ge- schichte sind mühevoll erworben. Wer also eine blinkende und blitzende Auslage total renovierter Retrobikes erwartet, wird ent- täuscht werden.
Neben der technischen Seite der Konser-vierung und Restaurierung steht bei mir mit gleicher Wertigkeit die Betrachtung des ge- schichtlichen Hintergrundes. Ein Gegenstand wird dann für mich interessant, wenn vor meinem geistigen Auge die Lebensumstände seiner Erbauer und Be- sitzer auftauchen; politische, soziale, technische oder auch die Umwelt-bedingungen der damaligen Zeit geben dem leblosen Objekt erst die nötige Aura und helfen dabei es im Kontext zu begreifen. Ansonsten ist ein Rad nur ein Haufen aus Stahl-, Leder- und Gummiteilen (nebenbei: Wussten Sie eigentlich, dass so ein Fahrrad aus bis zu 1500 Einzelteilen besteht?). Das mag jetzt alles sehr abgehoben und philosophisch klingen, ist aber für mich das Salz in der Suppe. Und dabei ist es einerlei, wie alt der Gegenstand ist. Auch ein Fahrrad aus den 1950ern oder 60ern wird interessant, wenn man sich etwas mit der spannenden Periode der Nachkriegs- und Wirtschaftswunderzeit befasst.
Konservatorisch gesehen behandle ich meine Fahrräder nach der Devise: Origi-nalsubstanz erhalten, Korrosion bzw. Zerfall soweit wie möglich stoppen, Ein- griffe reversibel gestalten - um es mal vereinfacht auszudrücken.
Dass diese Grundsätze nicht bei jedem Fahr- rad eins zu eins umgesetzt werden können wird jedem schnell klar, der schon mal ein altes Fahrzeug restauriert hat. Man wird oft genug zu einer Entscheidung gezwungen, die man eigentlich gar nicht treffen möchte. Belasse ich z.B. den irgendwann nachträg- lich montierten, nicht passenden Griff, oder suche ich einen passenden? Welche Farb- fassung ist erhaltenswert, oder versuche ich immer bis auf die originale Farbgrundlage vorzudringen? Was bedeutet 'original' über- haupt? Ist eine Nachlackierung aus den 1970er Jahren weniger wertvoll als eine aus den 1930er Jahren? Man mag daran erkennen, dass der hehre Grundsatz das eine, die Realität das andere ist. Mit der Zeit bekommt man wohl ein Gefühl für 'Geschichte', allein die Entscheidung bleibt eine persönliche und kann nicht verbindlich sein – die totale Zerstörung wie oben skizziert einmal außen vor ge- lassen.
Der oft gelesene Satz 'in den Originalzustand versetzen' ist ein Widerspruch in sich, darüber muss man sich im Klaren sein. Denn die Originalität ist ein Kind der Geschichte. Der Originalzustand ist immer derjenige, in dem sich der Ge- genstand - hier ein Fahrrad - befindet, auch wenn es einem nicht gefallen mag. 'In den Auslieferungszustand versetzen' würde es besser treffen. Aber auch dieses Unterfangen muss scheitern, denn den Faktor Geschichte und seine Spuren kann man nicht einfach negieren. Eine Renovierung 'in den Aus- lieferungszustand' geht zwingend mit der Zerstörung der Originalität einher und endet in einer Nachempfindung, sprich einer Kopie des Urzustandes. Möchte man das? Will man mit viel Mühe eine Kopie erschaffen, wo man doch ein Original besitzt?
Ich kann und will hier kein Rezept zur Restaurierung alter Fahrräder vorlegen, daher breche ich an dieser Stelle ab. Möge sich jeder seine Gedanken dazu machen...
25.05.2017
An diesem Peugeot E Route von 1916/18 habe ich exemplarisch beschrieben, wie ich mir eine schonende Restaurierung vorstelle. Dabei war das Objekt durchaus nicht optimal erhalten, wenn auch relativ komplett.